Lehrer Monokel hatte gerade seine Schülerinnen und Schüler in die Ferien entlassen. Er raffte seine Unterrichtsmaterialien zusammen und wollte noch seinen Stuhl auf den Tisch stellen, um das Reinigungspersonal zu entlasten. Da passierte es. Beim Zurücktreten zertrümmerte er ein auf dem Boden liegendes Kreidestück. Zunächst ignorierte er den Vorfall, besann sich dann aber doch seiner guten Erziehung, bückte sich und versuchte die Kreidebrösel einzusammeln. Er kalauerte mit sich selbst: „Typisch Schule! Hier lebt man noch in der Kreidezeit“. Doch dann schwenkten seine Gedanken ab. Was hätte dieses Kreidestück wohl noch vollbracht, wäre er etwas vorsichtiger gewesen? Hätte es nach den Ferien zum Verständnis des Pythagorassatzes beigetragen, hätte Kollegin S. damit den Notenspiegel der Klassenarbeit angeschrieben oder hätte vielleicht der neue Kollege damit seinen nicht alltäglichen Namen „Kasepinsky“ an der Tafel visualisiert? Kreide ist geduldig und erst ihre Reibung mit der rauhen Tafeloberfläche bringt ihre Wirkung voll zur Geltung. Geht man davon aus, dass ein Lehrer täglich 3 cm Kreide verbraucht, lässt sich ein Lebensarbeitszeitkreidebedarf von etwa 250 m Kreide hochrechnen. Wie viel cm davon wird der Biologielehrer in seinen Genetikkursen für das Anschreiben des Begriffes „Desoxyribonukleinsäure (kurz DNS)“ aufbrauchen, wie viel die Chemielehrerin für das Anzeichnen der Struktur des Benzolringes? Je länger Herr Monokel über den Kreidepartikeln sinnierte, desto intensiver wurde ihm bewusst, welch interessantes Tagebuch so manch Kreidestück schreiben könnte. Würde hier auch nicht immer die Bildung im Vordergrund stehen. Dient es doch manchmal so ganz unpädagogisch als Wurfgeschoss; in Pausen von Schülern eingesetzt, in den Stunden von jener Spezies Lehrerinnen und Lehrer, die darin eine letzte Chance sehen, die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können.
Auf dem Nachhauseweg wollte es Lehrer Monokel nicht gelingen, seine Gedanken kreidefrei zu bekommen. Noch nie zuvor waren ihm die mit Kreide an eine öde Hausfassade geschriebenen Sprüche aufgefallen: „Hätte ein Spiegel Mitgefühl, er würde so manches Bild verschlucken“ oder „Das Glück hängt nicht von der Farbe des Würfels ab“. Er nahm ein jungfräuliches Kreidestück aus seiner Kreidebox und fügte noch einen Spruch hinzu: „Vielleicht liegt es am SIE, dass viele Menschen kein Verhältnis zur PHANTASIE haben“. Zwei Straßen weiter zeichneten Kinder mit bunter Kreide Quadrate für ein Springspiel auf den Bürgersteig; direkt neben der schon etwas ramponierten Kreidezeichnung „Betende Hände von A. Dürer“, die ein mittelloser Student vor ein paar Tagen auf die Pflaster gebannt hatte. Kreide kann viele Eindrücke vermitteln, hätten doch die Kreidestriche auch die Umrisse eines unschuldigen Mordopfers definieren können.
Herrn Monokel wurde immer mehr bewusst, wie unaufmerksam er bisher durchs Leben gegangen ist. Mit dem Begriff „Kreide“ verband er ein antikes Utensil aus der Schule, jener Institution, die mangels Geld die neuen Medien nur sehr spärlich einsetzen konnte. Von diesem Vorurteil rückte er nun immer mehr ab. Nahm er doch beim Betreten seiner Wohnung sofort das schwarze Kleid seiner Frau wahr. Es hing an der Garderobe und kleine Kreidemarkierung deuteten an, dass es der neuen Mode gemäß kniefrei gekürzt werden soll. Ihn verblüffte das stete Auftauchen von Kreide nicht mehr, auch nicht eine halbe Stunde später, als er mit seiner Frau vor dem Bistro stand und auf einer kleinen Schiefertafel liebevoll in bunter Kreide geschrieben las: „Heute: Erbsensuppe mit Wursteinlage nur 4,- DM“.
Nach dem Motto „Durch eine rosarote Brille sieht man allemal mehr als jeder Schwarzseher“ vergaß er alsbald die Probleme, die sich von der Schule in die Ferien hangeln wollten. Seine Gedanken an die Kreidezeit hatten ihm verdeutlicht, dass gerade die kleinen Dinge des Lebens Kreativität anregen und neue Lebenskraft spenden können. Wie wertvoll es doch manchmal sein kann, in der Kreide zu stehen.
Eine Kurzgeschichte von Peter Ruppel