Familie Knödelhuber sitzt entspannt am Mittagstisch. Xaverli, der 8-jährige Bub schaut gebannt auf seinen Teller, der die Basis für zwei Scheiben Rollbraten, einen Schlag Kartoffelbrei und einer Riesenportion „Quer-durch-den-Garten-Gemüse“ bildet. Sein Gesichtsausdruck nimmt immer mehr die Form eines Fragezeichens an. Schließlich gibt er seine Gedanken kund: „Wo leben eigentlich die Rolls? Ihr Braten schmeckt mit soooo gut. Wie sehen sie aus? Gibt es sie im Zoo? Kann man mit ihnen spielen? Beißen die? …“
Vater und Mutter Knödelhuber schauen sich erwartungsvoll an. Aber sie kennen beide keine Antwort. Selbst ein Blick in diverse Lexika und ein Telefongespräch mit dem Zoodirektor hilft nicht weiter. Xaverli wird unruhig, er möchte seine Neugierde befriedigt wissen. Er quengelt, weigert sich seinen Teller zu leeren, verliert allmählich das Vertrauen in die Allwissenheit seiner Eltern, brüllt schließlich „Ich will einen Roll!!!!“.
Schließlich rettet der Großvater mütterlicherseits die zugespitzte Situation. Er nimmt Xaverli auf den Schoß und erzählt ihm eine kleine Geschichte:
In einem fremden Land leben seit vielen Jahren wundersame Wesen, die Rolls. Das Männchen nennt man Roller, das Weibchen Rolle. Sie haben keine Königin, sondern eine Hauptrolle. Thronfolgerin ist die Prinzenrolle. Es gibt nur ein Gesetz: „Zeige Dich nie einem Menschen!“
Wenn sich ein Roller und eine Rolle in der Rollzeit (Brunst) eng zusammenrollen, kann es passieren, dass Rolle am nächsten Tag ein(e) Rollei legt, aus dem nach wenigen Tagen ein Rol – so nennt man die Rollkinder – herausrollt. Mutterrolle übernimmt nach alter Rollenverteilung die Erziehung und der Vater verdient das Geld. Früher waren viele Rolls selbständig und schusterten Rollschuhe. Aber mit der Marktöffnung und dem damit verbundenen Aufkommen der Rollerblades und Inline-Skater mussten viele von ihnen umschulen. Einige verdienen heute in Fabriken ihr Geld mit dem Bau von Rolltreppen, andere rollen sich täglich aufs Rollfeld und bauen dort Rollkraut – eine Spezialität des Landes – an. Abends fallen sie erschöpft in ihren Rollstuhl und erholen sich bei einem Rollenspiel oder rollen sich eine Zigarette, essen einen McRoll, schauen sich einen Rollfilm an oder hören eine CD von den Rolling Stones, einer sehr beliebten Rollband.
Am Wochenende fährt die Rollfamilie öfter mit ihrem Rolls Royce (natürlich mit integriertem Überrollbügel), mit ihrem Roller oder mit dem öffentlichen Verkehrsmittel, der Rollbahn, zum Picknick. Hier trifft man andere Rolls und alles rollt durcheinander. Mittendrin mehrere Rollmöpse, kleine Hunde, die Lieblingshaustiere der Rolls. Die Rols schlagen Purzelbaüme, üben die Rolle vorwärts und rückwärts oder fahren mit ihrem Tretroller. Mutterrolle schimpft ihren jüngsten Rol, da dieser sich im Dreck gerollt hat und seine Kleidung verschmutzt hat. Dazu muß man wissen, daß alle Rolls Pullover mit eingearbeitetem Kragen, den berühmten Rollkragenpullover, und einen Rock’n Roll tragen. Gut erholt kehren sie spät am Sonntag zurück und rollen sich in ihr Bett.
Am nächsten Tag kauft Mutterrolle mit ihren Rols im Rolladen ein. In der Lebensmittelabteilung kauft sie die Zutaten für die Delikatesse der Rolls, den Rollbraten. Immer noch fragen sich viele Rolls, wie die Menschen, jene gefürchteten Wesen, die so gut wie nichts über die Rolls wissen, an das Rezept dieser Rolleibspeise gekommen sind. Die Zeit rollt dahin, und Mutterrolle muss sich beeilen. Es ist noch viel zu erledigen. Für das Rolzimmer wird ein neuer Rollo benötigt. Im Nähkästchen fehlen verschiedene Garnrollen. Am Lottostand kauft Mutterrolle fünf Rollreibungslose; ob sie gewinnt oder nicht, spielt für sie keine große Rolle. Am Kiosk ersteht sie eine Papyrusrolle mit den Neuigkeiten des Tages. Auch eine Biskuitrolle für die Kaffeetafel wird nicht vergessen.
Eines Tages trifft Vater eine Gastrolle. Mutterrolle ist total von der Rolle, sind doch schon viele Ehen durch Rollentausch auseinandergerollt. Aber für Vater sind alle anderen Weibchen nur Nebenrolle. Und so rollt und rollt und rollt und rollt (…) unsere Rollfamilie glücklich und zufrieden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so rollen sie noch heute.
Inzwischen ist Xaverli vom Schoß des Opas gerutscht und isst glücklich und zufrieden seinen Teller leer.
Eine Kurzgeschichte von Peter Ruppel